Visions du Réel feiert den legendären italienischen Regisseur, Drehbuchautor und Produzenten Marco Bellocchio und verleiht ihm den Ehrenpreis des Festivals.

Die Hommage sieht eine Masterclass und eine ausgewählte Retrospektive zu seinem Werk vor, daszu den wichtigsten des zeitgenössischen Kinos gehört. Gleichzeitig wird sein neuer Dokumentarfilm Marx kann warten (Marx può aspettare), erstmals in der Schweiz zu sehen sein. Die Preisverleihung findet im Rahmen der 53. Ausgabe des Festivals vom 7. bis zum 17. April 2022 statt. Partner der Einladung sind erneut die die Cinémathèque suisse und die ECAL (École cantonale d’art de Lausanne).

Gästezeitung 2022

Der am Vorabend des Zweiten Weltkriegs im norditalienischen Bobbio geborene Marco Bellocchio studierte an der Accademia dei Filodrammatici in Mailand und am berühmten Experimentellen Zentrum für Kinematographie in Rom. 1965 realisierte er mit seinem ersten langen Spielfilm Mit der Faust in der Tasche (I pugni in tasca, 1965) ein Manifest einer rebellischen Jugend. Ggedreht in seinem Elternhaus und gespielt von Schulfreund*nnen, legte das Debut den Grundstein zu einem so wütenden wie lyrischen Werk und wurde schnell von der Kritik entdeckt, die darin die italienische Antwort auf die Nouvelle Vague sah.

Als politischer und engagierter antifaschistischer Filmemacher hinterfragt Bellocchio unermüdlich die institutionelle Gewalt, sie es die der Familie, mit seinem ersten Film oder mit China ist nahe (La Cina è vicina, 1967), diejenige der Kirche mit Im Namen des Vaters (Nel nome del padre, 1971) oder Das Lächeln meiner Mutter (L’ora di religione: il sorriso di mia madre,2002) oderdiejenige der Armee mit Marcia trionfale (1976). Die Gewalt im Gesundheitswesens ist Thema seines Dokumentarfilms Keiner oder alle (Matti da slegare, 1974, den er in Ko-Regie mit Silvano Agosti, Sandro Petraglia und Stefano Rulli realisierte), der im psychiatrischen Krankenhaus von Colorno (Parma) spielt und dem Ansatz des Psychiaters Franco Basaglia nachgeht, der sich davon abwendete, die Patient*innen wegzusperren.In seinen Arbeiten uur italienischen Geschichte,, beispielsweise in Buongiorno, notte, 2003 zur Entführung des Politikers Aldo Moro durch Aktivist*innen der Roten Brigaden, oder Vincere, 2009, in dem es Mussolinis heimliche Geliebte geht, gelang es Bellocchio auf völlig neue und bemerkenswerte Weise, Bilder aus Fernseh- oder Filmarchiven mit seinen Erzählungen zu verflechten.

In seiner bisherigen Karriere führte er bei über 50 Filmen Regie, abwechselnd zwischen Fiktion und dokumentarischer Form, von Il popolo calabrese ha rialzato la testa (1969) über La macchina cinema (1978), einer Bestandesaufnahme des Kinos in fünf Folgen, für die er mit denselben Filmemachern zusammenarbeitete wie für Keiner oder alle, bis zu seinem bisher bisher letzten Dokumentarfilm Marx può aspettare. Indem er sein kreatives Spektrum mit jedem Projekt erweiterte, definierte Bellocchio die Grenzen des Dokumentarfilms stets aufs Neue.

Er präsentierte seine Filme an den grössten Festivals und insbesondere in Cannes, so Der Sprung ins Leere (Salto nel vuoto, 1980), der Michel Piccoli und Anouk Aimée zwei Preise für die beste Darstellung einbrachte, oder Den Teufel im Leib (Diavolo in corpo, 1986), der aufgrund seiner starken erotischen Dimension einen Skandal auslöste. In Cannes wurde er 2021 zudem für ein essenzielles Werk des zeitgenössischen Kinos mit einer Ehrenpalme ausgezeichnet. Gleichtzeitig wurde sein bisher letzter Film uraufgeführt: der Dokumentarfilm Marx kann warten (Marx può aspettare), der sich mit dem schmerzhaften Thema des Suizids seines Zwillingsbruders im Jahre 1967 befasst. Dieses ungewöhnlich intime und aufwühlende Werk offenbart den tiefgreifenden und spektralen Einfluss dieses unüberwindbaren Ereignisses und der weiteren Familiengeschichteauf eine einzigartige und beeindruckende fünfzigjährige Karriere, während der der Filmemacher seine ästhetischen Ambitionen ständig erneuerte.

Visions du Réel ist glücklich und geehrt, dass wir einen unbestrittenen Meister des zeitgenössischen Kinos und sein Werk würdigen dürfen. Es zeichnet sich seit seinen ersten Filmen durch eine verblüffende Modernität aus, dunkel, subversiv, ungeschliffen und herrlich eklektisch. Mit eindrucksvoller Freiheit verbindet Marco Bellocchio Ästhetik und Genres, bewegt sich zwischen Fiktion und Dokumentarfilm, dem Intimen und Kollektiven.

  • Marx può aspettare (Marx peut attendre), 2021
  • Se posso permettermi, 2021
  • Il traditore (Le Traître), 2019
  • La lotta, 2018
  • Per una rosa, 2017
  • Pagliacci, 2016
  • Fai bei sogni (Fais de beaux rêves), 2016
  • Sangue del mio sangue, 2015
  • Bella addormentata (La Belle endormie), 2012
  • Sorelle mai, 2010
  • Vincere, 2009
  • Sorelle, 2007
  • Materia e visione, 2006
  • Il regista di matrimoni (Le Metteur en scène de mariages), 2006
  • Buongiorno, notte, 2003
  • Oggi e una bella giornata, 2002
  • Appunti per un film su Zio Vania, 2002
  • Addio del passato, 2002
  • La Primavera del 2002, l’Italia protesta, l’Italia si ferma, 2002
  • L’ora di religione: Il sorriso di mia madre (Le Sourire de ma mère), 2002
  • Il maestro di coro, 2001
  • L’affresco, 2000
  • Un filo di passione, 2000
  • Nina, 1999
  • La balia (La Nourrice), 1999
  • Elena, 1997
  • Il principe di Homburg (Le Prince de Hombourg), 1997
  • Sogni infranti, ragionamenti e deliri, 1995
  • Roma dodici novembre 1994, 1995
  • Il sogno della farfalla (Le Rêve de papillon), 1994
  • L’uomo dal fiore in bocca, 1993
  • La condanna (Autour du désir), 1991
  • La visione del sabba (La Sorcière), 1988
  • Diavolo in corpo (Le Diable au corps), 1986
  • Enrico IV (Henri IV, le Roi fou), 1984
  • Gli occhi, la bocca (Les Yeux, la bouche), 1982
  • Vacanze in Val Trebbia, 1980
  • Salto nel vuoto (Le Saut dans le vide), 1980
  • La macchina cinema, 1978
  • Il gabbiano, 1977
  • Marcia trionfale (La Marche triomphale), 1976
  • Matti da slegare (Fous à délier), 1975
  • Sbatti il mostro in prima pagina (Viol en première page), 1972
  • Nel nome del padre (Au Nom du père), 1971
  • Viva il primo maggio rosso e proletario, 1969
  • Il popolo calabrese ha rialzato la testa, 1969
  • Discutiamo, discutiamo, 1969
  • La Cina è vicina (La Chine est proche), 1967
  • I pugni in tasca (Les Poings dans la poche), 1965
  • Ginepro fatto uomo, 1962
  • La colpa e la pena, 1961

 

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