Visions du Réel freut sich darauf, den grossen haitianischen Filmemacher als Ehrengast der 56. Festivalausgabe (4. – 13. April) begrüssen zu dürfen. Raoul Peck wird an der kommenden Ausgabe des Festivals im Zuge einer Masterclass und einer Retrospektive seines dokumentarischen Werks teilnehmen, wobei auch sein jüngster Langfilm Ernest Cole, photographe als Vorpremiere zur Aufführung kommen wird. Der Regisseur von I Am Not Your Negro, der 2017 für den Oscar nominiert wurde, wird dabei auf eine Filmographie zurückblicken, die mit bedeutenden Vertretern des emanzipatorischen Kampfes aufwartet und die kulturelle Dominanz einer eurozentrischen Geschichtsbetrachtung kritisiert. Diese Hommage ist Teil einer wertvollen Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und der Filmabteilung der ECAL.
Der 1953 in Haiti geborene und im Kongo, in New York, Frankreich und Deutschland aufgewachsene Raoul Peck gehört zu den Regisseuren des ausgehenden 20. und des 21. Jahrhunderts, an denen kein Weg vorbeiführt. In den vergangenen 40 Jahren hat der Filmemacher ein komplexes Werk aus Spiel- und Dokumentarfilmen geschaffen, die von einem tiefen politischen Engagement zeugen und internationale Beachtung fanden. Seine filmischen Erzählungen entsprangen gleichermassen seinem persönlichen multikulturellen Erfahrungsschatz wie seinem Werdegang als Aktivist und einer, wie er selbst es nennt, „marxistischen Lesart“ des Weltgeschehens.
Während er seine Geschichten unermüdlich aus der Perspektive der unterdrückten Völker erzählt, hat Raoul Peck stets auch hinterfragt, wie der Kapitalismus mit seiner eigenen, von den Gespenstern der Kolonisierung heimgesuchten Geschichte in Verbindung steht. Seine Filme untersuchen die Lügen der offiziellen westlichen Geschichtsschreibung und bringen ans Licht, was diese im Dunkeln lässt. Dabei bedient er sich oft des Porträts eines Politikers oder eines Literaten, wie zum Beispiel Patrice Lumumba in dem 1990 erschienen Spielfilm Lumumba, La Mort du prophète, auf den er 2000 den Dokumentarfilm Lumumba folgen liess, James Baldwin in I Am Not Your Negro (2016),) und zuletzt Ernest Cole in Ernest Cole, photographe (2024). Indem er die Vergangenheit heranzieht, um über die Gegenwart nachzudenken, und sich weigert neutral zu bleiben, erneuert Raoul Peck mit seiner Arbeit das militante Kino, wobei er in einer poetischen und zutiefst subjektiven Filmsprache Genres und Formate frei miteinander verflicht. Die vierteilige, von HBO produzierte Serie Exterminate All The Brutes, die ebenfalls auf dem Festival gezeigt wird, ist hierfür ein Musterbeispiel: sie nimmt uns mit auf eine Zeitreise, die die Geschichte des europäischen Kolonialismus, von Amerika bis Afrika, auf radikale Weise neu interpretiert und mithilfe einer persönlichen, visuellen und literarischen Erzählweise die bis heute dunkelsten Stunden der Menschheitsgeschichte in ein grelles Licht taucht. Die 2022 mit einem Peabody Award ausgezeichnete Serie verweist auch auf einen literarischen und kritischen Essay von Peck.
Raoul Peck wurde 1953 in Haiti geboren. Als Kind flieht er zusammen mit seinen Eltern vor der Duvalier-Diktatur, um sich im erst kürzlich unabhängig gewordenen Kongo niederzulassen. Gewalttätige Unruhen infolge der Unabhängigkeit zwingen ihn erneut ins Exil; er geht in Brooklyn zur Schule und bei den Jesuiten in Orléans aufs Gymnasium. Nach einer Ausbildung zum Wirtschaftsingenieur wendet er sich dem Journalismus, der Fotografie und dem Filmemachen zu. Er studiert im Berlin der 1970er-Jahre, das damals durch die starke Präsenz von Freiheitsbewegungen aus der Dritten Welt und von Anti-Apartheid-Aktivist*innen eine stark politisierte Stadt ist.
Seine Filme wurden auf zahlreichen Festivals gezeigt und erfuhren bei Kritik und Publikum grosse internationale Beachtung. Seine Filmographie umfasst u.a. L’Homme sur les quais (Festival von Cannes 1993) ; Lumumba (Quinzaine des Réalisateurs, Festival von Cannes 2000) ; Quelques jours en avril (Berlinale 2005) ; Moloch Tropical (TIFF 2009, Berlinale 2010) oder auch Meurtre à Pacot (TIFF 2014, Berlinale 2015). 2017 erhielt sein Film über James Baldwin, I Am Not Your Negro, eine Oscar-Nominierung für den Besten Dokumentarfilm und gewann auf dem Festival von Toronto und auf der Berlinale den Publikumspreis. 2018 wurde er als Bester Dokumentarfilm mit einem BAFTA und einem César ausgezeichnet. Sein jüngster Film, Ernest Cole, photographe, wurde 2024 auf dem Festival von Cannes in einer Sondervorführung gezeigt und gewann dort den Preis l’Œil d’Or.
Raoul Pecks Engagement brachte ihm mehrere Auszeichnungen ein : 2021 erhielt er für seinen Einsatz für die Menschenrechte den Irene Diamond Lifetime Achievement Award. Im selben Jahr wurde ihm der Lifetime Achievement Award des DOC NYC verliehen sowie 2024 der Outstanding Achievement Award am Hot Docs Festival in Toronto. Zudem war er Jurymitglied auf dem Festival von Cannes, auf der Berlinale und auf dem Sundance Festival.
Von 1995 bis 1997 war er Kulturminister der Republik Haiti.
Nach Werner Herzog, Claire Denis, Lucrecia Martel, Jia Zhang-ke, Marco Bellocchio, Claire Simon oder auch Emmanuel Carrère reiht sich Raoul Peck mit Nachdruck in die Liste der Ehrengäste der letzten Jahre ein.
1982 – Leugt (short)
1985 – Merry Christmas Deutschland (short)
1988 – Haitian Corner
1991 – Lumumba: Death of a Prophet
1993 – The Man by the Shore
1994 – Desounen: Dialogue with Death
1994 – Haïti, le silence des chiens
1997 – It’s Not About Love
1997 – Chère Catherine (short)
2000 – Lumumba
2001 – Profit and Nothing But!
2005 – Sometimes in April
2006 – L’Affaire Villemin (TV series)
2008 – L’École du pouvoir (TV series)
2009 – Moloch Tropical
2013 – Fatal Assistance
2014 – Murder in Pacot
2016 – I Am Not Your Negro, Oscar®-nominee, BAFTA and César for the Best Documentary
2017 – Young Karl Marx
2021 – Exterminez All the Brutes (TV series)
2023 – Silver Dollar Road
2024 – Ernest Cole: Lost & Found