Visions du Réel freut sich, den herausragenden Filmemacher Jia Zhang-Ke als Ehrengast der 55. Ausgabe (12. bis 21. April) begrüssen zu dürfen. Jia Zhang-Ke ist einer der bedeutendsten Regisseure und Schlüsselfigur des unabhängigen chinesischen Kinos sowie ‒ im weiteren Sinne ‒ des zeitgenössischen Films. Er wird im Rahmen des Festivals eine Masterclass halten, in der er sein vielschichtiges und einnehmendes Werk ausloten wird, das die Geschichte seines Landes hinterfragt und die Seelen ergründet, die es bewohnen. Im Lauf des Festivals wird eine Retrospektive seiner Filme gezeigt. Diese Hommage wird durch die wertvolle Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse und der ECAL – École Cantonale d’Art de Lausanne ermöglicht, mit der Komplizenschaft der Fondazione Prada.


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Chinese version


Find an original essay on Jia Zhang-Ke in the Guests‘ Journal.

«Seit dem Ausbruch von Covid-19 habe ich China seit fast vier Jahren nicht mehr verlassen. Die 55. Visions du Réel wird meine erste Reise nach Europa nach diesen vier Jahren sein. Ich fühle mich, als würde ich wieder die Welt umarmen, so aufgeregt wie ein Kind, das zum ersten Mal auf eine lange Reise geht. Ich begebe mich nach Nyon, für ein Kino, das die Welt so zeigt, wie sie wirklich ist.» . – Jia Zhang-Ke

Jia Zhang-Ke, geboren 1970 in der von der Chinesischen Mauer begrenzten Bergbauregion Shanxi, ist ein gefeierter Vertreter des zeitgenössischen Kinos. Er gehört zu einer Generation von chinesischen Filmemachern, die von den Tian’anmen-Protesten geprägt wurde. Seine eklektische Filmografie von mehr als 20 Werken nimmt Anleihen beim Genrekino wie auch beim Dokumentarfilm. Jia Zhang-Ke hat in den letzten zwei Jahrzehnten ein filmisches Oeuvre geschaffen, das ebenso kohärent wie chamäleonartig ist: Von Thrillers und Dokumentarfilmen über eine Vielzahl von hybriden Formen, auch mal von Laiendarstellern umgesetzt, Fiktionen auf realer Leinwand, bis hin zu nüchtern Erzählung die durch Fantasy-Elemente zum sprühen gebracht werden.

Für sein stilistisch facettenreiches Gesamtwerk schöpft Jia Zhang-Ke sämtliche technische Möglichkeiten (16 und 35 mm, DV, HD…) aus. Als bildender Künstler ermöglicht er ein subtiles und subversives Eintauchen in die chinesische Gesellschaft, das von unterschwelligem Realismus geprägt ist. Sich der Zensur widersetzend verteidigt Jia Zhang-Ke unermüdlich die kulturelle Bedeutung des Filmemachens in seinem Land. In epischen Erzählungen bemüht er sich, individuelle, vielgestaltige Lebenswege darzustellen, die mit der Vorstellung brechen, dass sich das Individuum in der Historie seiner Nation auflösen muss.

Immer bereit, sich mit den Realitäten der jüngsten Geschichte Chinas auseinanderzusetzen, erabeitet der Filmemacher einen zutiefst humanistischen Ansatz, der sich auf Erinnerung und Gedenken stützt. Um dies zu erreichen, kultiviert Jia Zhang-Ke eine erzählerische Polysemie, die ihre Aufmerksamkeit auf den Alltag gewöhnlicher Leute richtet die in «Mittelregionen» zwischen archaischem Landleben und boomenden Megastädten angesiedelt sind.

Jia Zhang-Kes Filme stellen somit die Versprechungen und Trugbilder der chinesischen Modernisierung auf den Prüfstand, die seit den 1960er Jahren im Eiltempo vorangetrieben wurde. Mithilfe romanhafter und sensibler Gegenerzählungen hinterfragen sie die Auswirkungen dieses kollektiven Narrativs, unter anderem das Aufkommen des verstaatlichten Kapitalismus auf den Menschen. Eine essentielle, eindringliche Filmografie, die oftmals zum Opfer der strengen staatlichen Zensur gefallen ist.

Nach seinem Abschluss an der Pekinger Filmakademie im Jahr 1997 kehrte Jia Zhang-Ke in seine Heimatstadt Fenyang in der Provinz Shanxi zurück, wo er 1997 seinen ersten Spielfilm Pickpocket (Der Taschendieb) drehte. Der mit geringen Mitteln und ohne Genehmigung entstandene Film, der einen ernüchternden – und, wie viele andere seiner Titel, einen quasi-dokumentarschen – Blick auf die chinesische Gesellschaft wirft, durfte in China nicht gezeigt werden. Dasselbe gilt für seine drei Folgewerke: Platform (2000), The Condition of Dogs (2001) und Unknown Pleasures (2002). Letzterer lief jedoch im offiziellen Wettbewerb in Cannes. Mit seinem Melodram The World (2004) kam zum ersten Mal einer seiner Filme auch in die chinesischen Kinos Seine Frau, die Schauspielerin Zhao Tao, die seit 2000 in allen seinen Spielfilmen zu sehen ist, spielt darin die Hauptrolle. Für ihre schauspielerischen Leistungen in Mountains May Depart (2015) und Ash Is Purest White (Asche ist reines Weiss, 2018) gewann sie zahlreiche Preise.

Ab 2006 erweiterte der Filmemacher seine Arbeit stärker in Richtung Dokumentarfilm mit Dong, der durch das Prisma des Malers Liu Xiaodong gesehen wird, dann mit Useless (2007), der die Textilindustrie in China erforscht, und mit 24 City (2008), der sich mit dem Verschwinden der Arbeitersiedlungen und der Modernisierung des Landes beschäftigt. Anschliessend zeichnete er in I Wish I Knew (2010) die Geschichte Shanghais nach und liess in Swimming Out Till the Sea Turns Blue (2020) drei chinesische Schriftsteller über die Entwicklung ihres Landes referieren.

Zu Zhang-Kes zahlreichen Auszeichnungen gehören der Goldene Löwe von Venedig, der Asian Film Award als bester Regisseur für Still Life (2006) und der Preis für das beste Drehbuch am Festival de Cannes für A Touch of Sin (2013). Auch sein Gesamtwerk wurde von grossen Festivals gewürdigt, so beispielsweise in Locarno, wo er 2010 seinen Ehrenleoparden erhielt, und der Quinzaine des Réalisateurs in Cannes, wo ihm 2015 die Carosse d’Or verliehen wurde.

Neben seiner Tätigkeit als Regisseur trägt Jia Zhang-Ke auch zur chinesischen Filmproduktion bei. Mr. Tree (2011), Dead Pigs (2018), The Best Is Yet to Come (2020), The Calming (2020) und White Building (2021) sind nur eine Auswahl der zahlreichen Filme, die er (mit-)produziert hat. 2017 gründete er zusammen mit dem legendären Filmhistoriker und Festivaldirektor Marco Müller das Pingyao Crouching Tiger Film Festival (PYIFF), das sich der Förderung junger chinesischer Filmschaffenden widmet.

Jia Zhang-Ke wird sich im kommenden April zu den Leitfiguren des zeitgenössischen Kinos gesellen, die bereits von Visions du Réel ausgezeichnet wurden. Darunter finden sich Grössen wie Lucrecia Martel, Marco Bellocchio, Claire Denis, Werner Herzog und der Autor Emmanuel Carrère.

2020   Visit (Spielfilm, Kurzfilm)
2020    Swimming Out Till the Sea Turns Blue
2019    The Bucket (Spielfilm, Kurzfilm)
2018    Ash Is Purest White (Spielfilm)
2017    The Hedonists (Spielfilm, Kurzfilm)
2015    Mountains May Depart (Spielfilm)
2015    Smog Journeys (Spielfilm, Kurzfilm)
2013    A Touch of Sin (Spielfilm)
2011    Yulu (kollektiver Dokumentarfilm)
2011    3.11 A Sense of Home (kollektiver Dokumentarfilm)
2010    I Wish I Knew
2008   Cry Me a River (Spielfilm, Kurzfilm)
2008    24 City (hybrid)
2007    Our Ten Years (Spielfilm, Kurzfilm)
2007    Useless
2006    Dong
2006    Still Life (Spielfilm)
2004    The World (Spielfilm)
2002    Unknown Pleasures (Spielfilm)
2001    In Public (mittellanger Film)
2001    The Condition of Dogs (Kurzfilm)
2000    Platform (Spielfilm)
1997     Pickpocket (Spielfilm)
1995     Xiao Shan Going Home (Spielfilm, mittellanger Film)

 

 

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