Visions du Réel feiert die grosse argentinische Filmemacherin und Drehbuchautorin Lucrecia Martel mit einem Ehrenpreis bei der 54. Ausgabe (21.-30. April). Lucrecia Martel ist eine der bedeutendsten Figuren des zeitgenössischen Kinos und hat das Neue Argentinische Kino entscheidend geprägt hat. Während des Festivals wird sie in einer Masterclass durch ihr Werk führen und ihren Bezug zur Darstellung von Realität. Dazu wird eine Retrospektive ihrer Filme gezeigt. Traditionsgemäss wird diese Hommage in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque Suisse und der ECAL – École Cantonale d’Art de Lausanne gestaltet.

Ein Essay über Lucrecia Martels Werk, von Dennis Lim für Visions du Réel geschrieben, ist im Journal des invité·e·s zu finden.

Lucrecia Martel erlangte bereits mit ihrem ersten Langfilm La ciénaga (2001), der in ihrer Heimatregion Salta im Nordwesten Argentiniens gedreht wurde, internationale Bekanntheit und verkörpert seitdem die Erneuerung des argentinischen Films auf der nationalen und internationalen Bühne. Die aus vier Langfilmen und insgesamt 25 Titeln bestehende Filmografie der Filmemacherin hat sowohl ihr Land in einem post-diktatorischen Kontext als auch die renommiertesten Festivals geprägt. In einer höchst sinnlichen Filmsprache untersucht Lucrecia Martel die existentielle Krise der argentinischen Mittelschicht, die gesellschaftlichen Mechanismen, die erstickende soziale Realität sowie die postkolonialen Herausforderungen ihres Heimatlandes. So ubeschäftigen sich ihre Filme unablässig mit der Geschichte Argentiniens und den Geistern, die bewohnen. Ihre Liebe zum Detail – insbesondere Ton, Geräusche und Dialoge betreffend – und der kaleidoskopische Ansatz ihrer Arbeit führen eine doppelte, sowohl mündliche als auch filmisch abenteuerliche Tradition fort, die von einer fröhlichen Cinephilie durchdrungen ist. Das Werk von Lucrecia Martel, das an Orten und in Situationen verankert ist, die der Filmemacherin sehr vertraut sind, nimmt bei einer Vielzahl von Genres Anleihen und bietet eine reiche und faszinierende Hybridisierung von Fiktion und Realität. Nach Terminal Norte im Jahr 2021 arbeitet sie derzeit an einem neuen langen Dokumentarfilm, der 2023 veröffentlicht wird.

Visions du Réel ist besonders stolz und fühlt sich geehrt, eine so bedeutende, hervorragende und einzigartige Figur des zeitgenössischen Kinos auf dem Festival begrüßen zu dürfen, eine Filmemacherin, der es mit jedem ihrer Filme gelingt, Universen gewagt zu erfassen und zu erschaffen und ein abenteuerliches, verstörendes und einzigartiges Werk zu komponieren, das das Weltkino immer wieder herausfordert.

Lucrecia Martel, eine Figur des Neuen Argentinischen Kinos, wurde in Salta im Nordwesten Argentiniens geboren. Nach ihrem Studium an der Avellaneda Experimental (AVEX) und der Escuela Nacional de Experimentación y Realisación Cinematográfica (ENERC) in Buenos Aires drehte sie zwischen 1988 und 1994 eine Reihe von fiktionalen und dokumetarischen Kurzfilmen. Ihr sehr vielversprechende Erstling, der Kurzfilm Rey Muerto, bildet ein Segment des Langfilms Historias breves (1995). 2001 erhielt ihr erster Langfilm La ciénaga, eine sommerlicher Spielfilm über eine Familie, die sich in ihren Problemen verstrickt, zahlreiche internationale Preise, darunter einen Silbernen Bären (ehem. Alfred-Bauer-Preis) auf der Berlinale. Es folgte La niña santa (2004), der von einer Jugendlichen und ihrem Schwanken zwischen Verlangen und Glauben handelt und für den Wettbewerbs des Cannes Film Festival ausgewählt wurde, sowie der verstörende La mujer sin cabeza (2008) über die Verwirrung einer Frau, die von ihrem Geheimnis und den Erwartungen der Gesellschaft erdrückt wird. Ihr vierter Langfilm Zama (2017), eine Studie des Kolonialismus und des Rassismus in Lateinamerika, feierte Weltpremiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig, bei denen Martel 2019 als Jury-Präsidentin amtierte.

Nach einigen kurzen und mittellangen Dokumentarfilmen machte Lucrecia Martel 2021 mit Terminal Norte, der während der Pandemie gedreht wurde, einen weiteren bemerkenswerten Ausflug ins Kino des Realen. Der Film folgt einer Gruppe von Musikerinnen, die während des Lockdowns in den mächtigen Wäldern und Landschaften der konservativ geprägten argentinischen Region Salta Zuflucht finden, aus der auch die Filmemacherin stammt. Sie liefert ein intimes, sensoriell und engagiertes Immersiv-Projekt, das die Symbiose zwischen diesen Künstlerinnen, ihren Gesängen und Erzählungen und der umgebenden üppigen Natur eindrucksvoll veranschaulicht. Dieses Projekt ist ein Vorgeschmack auf ihren nächsten Langfilm, ebenfalls ein Dokumentarfilm, der für das Jahr 2023 geplant ist.

Neben ihrer filmischen Arbeit beschäftigt sich Lucrecia Martel auch mit anderen künstlerischen Disziplinen und Ausdrucksformen. Sie hat unter anderem mit Björk zusammengearbeitet, für die sie Regie für das Konzert Cornucopia (2019) im The Shed (New York) führte, die bislang als anspruchsvollste Aufführung der isländischen Künstlerin beschrieben wird. Während des Lockdowns produzierte sie das immersive Werk The Passage (2021), das im EYE Filmmuseum (Amsterdam) gezeigt wurde. Ihre Arbeiten wurden in den renommiertesten Kunst- und Kulturinstitutionen wie Harvard, MoMA, Lincoln Center, Cambridge und Tate London gezeigt. Ausserdem bot sie eine Reihe von Masterclasses zu den Themen Ton und Erzählen an.

  • Camarera de piso, 2022
  • Terminal norte (North Terminal), 2021
  • Al, 2019
  • Julieta Laso: Fantasmas, 2018
  • Zama, 2017
  • El aula vacía, (short: Leguas), 2015
  • Muta, 2011
  • Pescados, 2010
  • Nueva argirópolis (New Argirópolis), 2010
  • 25 miradas, 200 minutos, 2010
  • La mujer sin cabeza (The Headless Woman), 2008
  • La ciudad que huye, 2006
  • La niña santa (The Holy Girl), 2004
  • La ciénaga, 2001
  • Las dependencias, 1999
  • Historias breves, (short: Rey muerte (Dead King)), 1995
  • D.N.I., 1995
  • Magazine for Fai, 1995
  • Besos rojos, 1991
  • La otra, 1989
  • Piso 24, 1989
  • No te la llevarás maldito, 1989
  • El 56, 1988

Auswahl 2023